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Schmidt (Siegen) - Sellinat - Ziegler - Kassner

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Fotos vom Café Schmidt


"Das Kaffeetrinken ist nur ein Vorwand", hat der Literat Ludwig Plakolb konstatiert. Im Café stellt man sich dem Leben, der Umwelt, den Freunden und Kollegen. Nun hatte auch Siegen durchaus eine Cafétradition. Dass es doch um diesen "Salon ohne Etikette" unter dem Krönchen bis 1970 von Jahr zu Jahr schlechter bestellt war, beweist folgende Bilanz: Nach dem Kriege haben in Siegen rund ein Dutzend Cafés ihre Türen geschlossen, ohne dass ein neues Haus der süßen Branche unter neuem Namen zu einer vergnüglichen Kaffeestunde eingeladen hätte. Die vorläufig letzte, gleichzeitig aber auch renommierteste alteingesessene Fabrikationsstätte süßer Geheimnisse zog 1970 die Rollos für immer herunter. Mehr als sieben Jahrzehnte kamen die Siegener ins stadtbekannte Café Schmidt in der Bahnhofstraße, um sich in behaglicher Umgebung bei Kaffee und Kuchen den grauen Alltag zu versüßen. Vorbei die Zeit, in der man unbekümmert stundenlang bei duftendem Kaffee sinnieren oder debattieren konnte, vorbei auch die Zeit, in der man möglichst unauffällig törtchenkonsumierenden jungen und mittelalterlichen Töchtern auf den Kuchenteller guckte, eine ganze Menagerie von Marzipantierchen auf ihre Liebhaber wartete und Damenkränzchen in den Gesellschaftszimmern der ersten Etage bei zwei Glas weißem Tarragona für 60 Pfennig in Stimmung gerieten.

Karl Schmidt, der Großvater des jetzigen Inhabers, eröffnete 1896 eine Konditorei mit Café im Hause der damaligen Klavierfabrik Loos. Fünf Jahre später erwarb er das Grundstück in der Bahnhofstraße 17, auf dem das Café bis 1970 stand. Über all die Jahrzehnte hinaus erfüllte es alle Voraussetzungen der Gemütlichkeit, ja ersetzte vielen bisweilen sogar den Tagesraum, beim Plausch, bei einer geschäftlichen Besprechung oder beim Klatsch. Café Schmidt war in Siegen so etwas wie ein bürgerlicher Salon, der Inbegriff des Cafés mit gehobenem Niveau. Den Gästen bot das Café mit seinem Ambiente den adäquaten Rahmen.

Als 1946 der Sohn Walter das Café übernahm, lag das Haus in Trümmern. Die Jahre des Wiederaufbaues waren 1949 beendet. Café Schmidt stellte sich im neuen Glanz vor. Als Geburtstagsgedeck offerierte der stellv. Obermeister der Konditoreninnung, Walter Schmidt, 1956 "eine Tasse wohlschmeckenden Schmidt-Kaffee, ein Stück Obsttorte mit Sahne, ein Plunderteilchen und einen Berliner für 1,50 DM".

Nach dem Tod seines Vaters übernahm Bernd Schmidt mit seiner Frau Astrid den Konditoreibetrieb. Bis zuletzt stand auch seine Mutter, Elfriede Schmidt, noch hinter der Schokoladentheke. Den letzten äußeren Schliff erhielt das Café 1964. Die Räumlichkeiten waren erweitert worden, das Mobiliar erneuert, die Güte der Erzeugnisse blieb.

Marzipan, weiße Schokolade, Dresdener Stollen und Cottbuser Baumkuchen und über 50 Pralinen-sorten begründeten den Ruf des Hauses und wurden in alle Welt geliefert. Bis nach Kalifornien reiste das Zuckerwerk und süd- und norddeutsche Fürstenhäuser leckten sich die Finger nach den köstlichen Siegener Schleckereien. Und jedes Jahr reiste eine "Herrentorte" in den Vatikan, wo eine Nonne aus dem Sauerland dem Papst ein Stück der Köstlichkeit aus Siegen überreichte. Der Berg an Auslandspost bewies stets, wie groß die Nachfrage nach dem zuckrigen Sortiment aus der Konditorenbackstube an der Bahnhofstraße war. Auf der Gesellschafterversammlung der Fa. Schmidt & Melmer gab es neben Torten auch Mülltonnen aus Marzipan, die selbstverständlich vom Café Schmidt geliefert wurden. Trotz steigender Automation und des Umwandlungsprozesses in der Genussmittelindustrie wurden die Köstlichkeiten bis zuletzt nach teilweise überholten Praktiken geformt und modelliert. Die Spezialitäten kannten keine Zollschranken.

Seit etwa 1967 hatte sich die Familie Schmidt mit dem Gedanken beschäftigt, das Café aufzugeben. Steigende Betriebskosten, Personalprobleme und die Sorge, das Renommee bei gleichbleibender Qualität zu wahren, führte schließlich zu dem Entschluss, dem Drängen eines französischen Schuhunternehmens nachzugeben.


Literatur:
1) Siegener Zeitung 04.04.1970.